Transparente Demokratie braucht Whistleblower
Whistleblower brauchen menschenrechtlichen Schutz
Im hundertsten Jahr ihrer Geschichte verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille 2014 an
- den Ex-NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden,
- die Dokumentarfilmregisseurin Laura Poitras und
- den Journalisten und Juristen Glenn Greenwald
Gerhart Baum, Bürgerrechtler und ehemaliger Bundesinnenminister, wird die Laudatio auf Edward Snowden halten, Peter Lilienthal, Filmregisseur und Ossietzky-Medaillenträger 2012, die Laudatio auf Laura Poitras sowie Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der Snowden in Deutschland vertritt und zu dessen internationalem Juristenteam gehört, die auf Glenn Greenwald.
Die Liga zeichnet mit Edward Snowden einen außergewöhnlichen und mutigen Whistleblower aus, der mit seinen Enthüllungen den größten geheimdienstlichen Überwachungs- und Ausspähskandal aller Zeiten aufgedeckt hat, unter dem praktisch alle BürgerInnen zu leiden haben. Mit seiner Gewissens- und Lebensentscheidung setzte er seine pers;nliche Freiheit aufs Spiel, um unsere zu schützen. „Er hat unsere Werte verteidigt – jetzt müssen wir ihn verteidigen“, mahnt Gerhart Baum.
Zusammen mit Snowden ehren wir die JournalistInnen Laura Poitras und Glenn Greenwald, die seine Erkenntnisse auf höchst professionelle Weise, umsichtig und verantwortungsvoll der Weltöffentlichkeit nach und nach zur Kenntnis gebracht haben und weiterhin bringen werden. Die beiden haben sich mit ihrer riskanten Aufklärungsarbeit – Snowden hätte dies unter den Bedingungen seiner Flucht und politischen Verfolgung selbst nicht leisten können –, mit Zivilcourage und herausragendem Engagement ebenfalls um Demokratie sowie um Grund- und Menschenrechte verdient gemacht. Der gerade in den Kinos angelaufene Film „Citizenfour“ unter der Regie Laura Poitras dokumentiert die Bedeutsamkeit des Einsatzes aller drei Ausgezeichneten eindrücklich.
Die Liga würdigt ausdrücklich das Zusammenwirken von couragiertem Whistleblowing und staatskritischem Journalismus – ganz im Geiste Carl von Ossietzkys, jenes für seine Zivilcourage und für sein selbstloses Engagement international geehrten Publizisten der Weimarer Republik, der wegen seiner Aufklärungsarbeit über die völkerrechtlich verbotene Aufrüstung der Luftwaffe selbst in die Mühlen der politischen Justiz geriet und später dem Nazi-Terror zum Opfer fiel.
Mit Blick auf die drei von der Jury ausgewählten Personen bekräftigt die Präsidentin der Liga, Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin: „Unsere Solidarität gilt zu aller erst dem Asylsuchenden Edward Snowden, der politischer Verfolgung ausgesetzt ist. Er musste die bittere Erfahrung machen, dass praktisch alle EU-Mitgliedsstaaten – die sich als ‚westliche Demokratien‘ bezeichnen – das universell verbriefte Menschenrecht auf politisches Asyl offenbar der ‘Freundschaft mit den USA‘ opfern. Ihm sowie Laura Poitras und Glenn Greenwald gebührt unser voller Einsatz für die Zusicherung eines völkerrechtlichen Schutzes ihrer körperlichen Unversehrtheit sowie der Garantie zur Ausübung ihrer unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte. Gelebte Demokratie braucht größtmögliche Transparenz, transparente Demokratie braucht Whistleblower und Whistleblower brauchen menschenrechtlichen Schutz.“
In einer Demokratie steht der Öffentlichkeit ein umfassendes Informationsrecht zu; die Bevölkerung hat einen Kollektivanspruch auf Transparenz sowohl des Regierungshandelns als auch der Vorgänge in staatlichen Institutionen. Geheime Regierungsressorts und Dienste höhlen diesen demokratischen Rechtsanspruch bis zur Unkenntlichkeit aus. Auch die gesetzlich geregelte parlamentarische Kontrolle der Exekutive wird von Geheimdiensten routinemäßig umgangen.
Die Liga hält daher zivilen Ungehorsam und insbesondere Whistleblowing im Interesse einer transparenten und partizipativen Demokratie für geboten und gerechtfertigt. Konsequenterweise müssen dann aber auch diejenigen wirksam geschützt werden, die diesen demokratischen Transparenz- und Kontroll-Anspruch im öffentlichen Interesse der Bevölkerung verwirklichen.
Gerade im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt hat Whistleblowing sowohl individuell für jeden Bürger und jede Bürgerin als auch kollektiv für die Bevölkerung ganzer Nationen existentielle Bedeutung gewonnen. Es ist an der Zeit, diese Form von Notaufklärung im Falle der Verletzung der exekutiven Informations- und -Kontrollpflichten international und innerstaatlich wirksam zu verankern.
„Wer geheime Macht, Machtmissbrauch und staatliches Unrecht aufgedeckt und dabei seinem Gewissen folgt“, mahnt Dr. Rolf Gössner, Vizepräsident der Liga, „erfüllt den demokratischen Kollektivanspruch auf Transparenz und Kontrolle. Solche Menschen mit Zivilcourage haben in besonderem Maße gesellschaftliche Hilfe und rechtlichen Schutz verdient – als Whistleblower im öffentlichen Interesse sowie als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten.“
Die Liga fordert deshalb, alle notwendigen Schutzgarantien für Whistleblower im Menschenrechtskatalog des UN-Zivilpakts (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte), in europäisches Recht sowie in nationale Ausführungsgesetze – auch im Grundrechtsteil der Verfassung – aufzunehmen, um so den umfassenden menschen- und völkerrechtlichen Schutz von Whistleblowern vor politischer und strafrechtlicher Verfolgung zu gewährleisten.
Um die Verantwortlichen für die geheimdienstliche Massenausforschung der Bevölkerung, wie sie das ausgezeichnete Aufklärungsteam um Snowden aufgedeckt hat, zur Rechenschaft zu ziehen, hat die Liga zusammen mit anderen Organisationen schon vor zehn Monaten Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienstverantwortliche erstattet. Der zuständige Generalbundesanwalt zögert – trotz der erdrückenden Fülle an Belastungsbeweisen und -zeugen – bis heute, ein offizielles Strafermittlungsverfahren einzuleiten.
Die Carl-von-Ossietzky-Medaille wird von der Liga seit 1962 verliehen. Ausgezeichnet werden Personen oder Gruppen, die sich durch Zivilcourage und herausragendes Engagement für die Verwirklichung, Verteidigung und Erweiterung der Grund- und Menschenrechte und des Friedens verdient gemacht haben. 2012 erhielt der Filmregisseur Peter Lilienthal diese Medaille.