Im Jahr 2005 hat die Altenpflegerin Brigitte Heinisch die Vernachlässigung alter Menschen in einer großen Berliner Pflegeeinrichtung aufgedeckt. Sie konnte sich mit der dort herrschenden unzureichenden Pflege- und Arbeitsplatzsituation nicht abfinden und unterbreitete der Heimleitung wiederholt Verbesserungsvorschläge. Die wurden nicht aufgegriffen. Schließlich erstattete sie Strafanzeige. Ihr wurde gekündigt. Ihre Kündigungsschutzklage blieb erfolglos, erst der EGMR urteilte fünf Jahre später, dass sie ihr Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zugunsten der hilflosen Heimbewohner im öffentlichen Interesse wahrgenommen habe.
Das ist nun 12 Jahre her. Was hat sich geändert durch den mutigen Einsatz der Whistleblowerin, der ihr ganzes weiteres Leben überschattet hat? Wenig, wie untenstehender Erfahrungsbericht von Jamsin Arbabian-Vogel und die Reaktionen darauf auf Facebook zeigt.
Frau H. ist tot.
Erfahrungsbericht von Jamsin Arbabian-Vogel auf Facebook
Frau H. hat die letzten Jahre ihres Lebens in unserer Senioren-Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz verbracht. Vergangene Woche kam sie ins Krankenhaus und verstarb dort fünf Tage später.
Frau H. wurde 95 Jahre alt und dennoch kam ihr Tod überraschend.
Als Pflegedienst sind wir es mittlerweile gewohnt, keinerlei Auskünfte zu unseren Patient*innen zu bekommen, deren Datenschutz juristisch höher wiegt als unser Bedürfnis nach Information und Kontakt zu ihnen im Krankenhaus.
Frau H.s Tod war ein einsamer Tod. Niemand war bei ihr, nicht einmal ihre Kinder, die vom Krankenhaus nicht benachrichtigt wurden. Weder darüber, dass sie im Sterben liegt, noch darüber, dass sie nach fünf Tagen gestorben ist.
Die diensthabende Krankenpflege-Fachkraft teilte der Tochter mit, dass die Station aufgrund personeller Engpässe sich nicht in der Lage sah, die Familie über den Tod zu informieren. Nicht am Tag des Todes, nicht einen Tag danach und auch nicht am zweiten und dritten Tag nach dem Tod.
Der 12. Mai ist traditionell der internationale Tag der Pflege.
Wäre ich befugt, ihn umzuändern, würde ich ihn umbenennen in den Tag des Pflege-Kollaps.
Wir befinden uns schon längst als Gesellschaft in der Dysfunktionalität. Wenn sich bei mir in Hemmingen zwei Busfahrer*innen krank melden, fährt der Bus nicht. Es gibt keinen Personal-Ersatz mehr, der einspringt. Der Bus fährt dann schlicht nicht mehr, mit der Folge, dass unser 17-jähriges ukrainisches Teenager-Mädel nicht in die Schule kommt.
Behörden, Restaurants, Bäcker, Dienstleister: alle haben schon lange ihre Öffnungszeiten angepasst, also reduziert.
Behörden, Restaurants, Bäcker, Dienstleister können ihre Zeiten anpassen, davon werden wir nicht sterben. Auch der Bus kann ausfallen, der Unterricht in der Schule fällt ja ebenfalls oft aus und somit verpasst das Teenager-Mädel vielleicht nicht allzu viel.
Aber der Kollaps in der Pflege hat heute schon furchtbare Folgen für uns alle.
Frau H. ist allein gestorben. Ihre Kinder, ihre Pflegekräfte, ihre Freunde -niemand wurde informiert. Das ist kein Einzelfall, und es wird kein Einzelfall bleiben. Für Frau H. war es ein einsames Sterben, für uns als Gesellschaft ist es eine Katastrophe, die schon längst da ist.
Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch wiederum hat am 18. Mai 2023 auf Facebook folgendes Gedicht geteilt.
Die Kriegerin
Lyrics von Doreen Kirsche (mit Ergänzungen von Brigitte Heinisch)
Ich bin müde
von Menschen, die
keine mehr sind, müde von
all diesen Fähnchen im Wind
und dann
bin ich noch müde
von giftigen Sätzen, die
meine Seele
ganz furchtbar verletzen.
Ich bin müde
von Druck und müde
vom Sollen, müde
von Leuten, die
immer nur wollen
und dann
bin ich noch müde
vom steten Erwarten…
Die Menschheit
scheint weiter
im Wahn
zu entarten…
Ich bin müde, nach
Entwicklung und Tiefgang
zu suchen, während andere
lieber
die Ablenkung buchen.
Ich bin müde
vom Weinen und müde
vom Schweigen, müde
vom Glauben, ich
dürft‘ mich nicht zeigen
und dann
bin ich noch müde
vom Schimpfen und
Fluchen, von
all diesen dreisten
Erziehungsversuchen.
Vor allem bin ich müde
von Härte und
grausamer Kühle, müde
von allem, was
ich grad fühle, müde
von Worten die
leer sind und
kalt. Sie machten
aus mir
diese schwache Gestalt.
Ich bin müde, vom
Anschreien und
ewigem gehen und davon
im Streit
jemand zu Bleiben
anzuflehen.
Ich bin müde, von
Streits um ~ eigentlich ~
nichts und davon,
dass zum Klären dann
niemand hier sitzt.
Ich bin müde
von Leuten
die es nicht interessiert, wenn man
den Halt
so erbärmlich verliert und dann
bin ich noch müde
von all dieser Zeit, in der
meine Seele
nach Wertschätzung schreit.
Ich bin müde
von Halbwahrheiten und
diesem System. Für mich
hat die Erde
ein riesen Problem.
Und dann
bin ich noch müde
von Hass und Gewalt, müde
von Monstern
in Menschengestalt.
Drum
wünsch ich mir heute,
die Welt
mög‘ erwachen.
Ich wünsche mir
Menschen
die wirken und
machen, ich
wünsche mir Menschen
mit ehrlicher Haut, denen
mein Herz
ohne Zweifel vertraut.
Ich wünsch mir
Gespräche, die
zur Klärung führen, Worte
und Sanftheit die
meine Seele berühren.
Ich wünsche dir
Kraft
eigene Fehler zusehen um
mit ihnen als Lektion
in deine Zukunft zu gehen.
Ich wünsch‘ mir
Erholung von
finsteren Tagen. Ich möchte
geliebt sein und
nicht nur ertragen, ich
will wieder strahlen
in glänzendem Licht, denn
müde vom Leben
bin ich noch nicht!