Wie viele Fernzüge der Deutschen Bahn sind mit geschlossenem oder nicht vollständig vollfunktionsfähigem Bordbistro unterwegs? Antwort: VS-Vertraulich.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Torsten Herbst stellte beim parlamentarischen Staatssekretär Enak Ferlemann die Anfrage, wie viele Fernzüge der DB ohne vollfunktionsfähiges Bordbistro fahren und wie viel Umsatz durch die Gastronomie in ICEs generiert würde. (Ob Torsten Herbst auf der Suche nach Currywurst mit Tortilla-Crunch & Brötchen, 5.40 €, oder dem 2018er Rotwein-Cuvée ROT UND WILD, 7.90 €, frustriert vor einem geschlossenen Bistro gestanden hat, ist ungeklärt.)
Über die Antwort des Beauftragten für Schienenverkehr hat die Welt am Sonntag im September 2020 berichtet: Diese Informationen würden „verfassungsrechtlich geschützte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse berühren.“ Konkurrierende Unternehmen könnten sich diese Informationen für einen Wettbewerbsvorteil zu Nutze machen. Soweit so verständlich. Aber obendrauf wurden die Informationen als „VS-Vertraulich“ klassifiziert.
🤔 Ob das so im Sinne des Erfinders von behördlichem Geheimschutz ist?
Wie viele Verschlusssachen es gibt? Unklar! Aus der jüngeren Vergangenheit stammen die einzigen nicht geschätzten Zahlen von 2017. Sie wurden durch die Piraten im Landtag NRW durch eine kleine Anfrage ermittelt: Auffällig war, dass allein im Bereich des Ministeriums für Inneres und Kommunales über 850.000 Einzeldokumente unter Verschluss stehen. Die letzten Informationen von der Bundesebene stammen von 2015. Die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken war: Die Verschlusssachen werden größtenteils auf Papier in „Tagebüchern“ dokumentiert. Die Nennung einer konkreten Zahl ist ein zu großer Aufwand.
Eine Demokratie lebt vom öffentlichen Diskurs und der Möglichkeit, das Handeln von Politik und Verwaltung nachvollziehen zu können. Dafür benötigen Bürger*innen Zugang zu Entscheidungsgrundlagen. Daher gibt es beispielsweise die Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze oder die Möglichkeit der Anfragen gewählter Repräsentant*innen.
Weil der Staat so viele sensible Informationen unter Verschluss hält, kann die Gesellschaft ihn für seine Rechtsverstöße oder unethisches Verhalten oft nicht zur Rechenschaft ziehen. Stattdessen muss die Gesellschaft derzeit darauf vertrauen, dass die Mitarbeiter*innen in den Ämtern gegen Rechtsverstöße / Missstände eigenständig vorgehen. Denkbare Wege sind z.B. der Gang zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft oder an die Öffentlichkeit. Alle diese Möglichkeiten (Informationsfreiheitszugang, parlamentarische Anfrage, Anzeige, öffentliches Whistleblowing) kann der Staat allerdings enorm erschweren, indem er die relevanten Informationen als „Verschlusssachen“ einstuft. Als Folge wird erstens sowohl der Zugriff mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes als auch durch Abgeordnete deutlich erschwert. Zweitens, steigen auch im Fall der Aufdeckung erheblicher Missstände die mit einer unbefugten Weitergabe (Whistleblowing) verbundenen Sanktionsrisiken deutlich an. Drittens wird die zeithistorische Forschung auf Jahrzehnte hinweg unterbunden, denn klassifizierte Akten werden zwar in die Archive überführt, dürfen aber nicht genutzt werden (ob die Klassifizierung dem archivrechtlichen Anspruch entgegensteht, ist umstritten, wird aber so gehandhabt).
Wer kontrolliert die Einstufungspraxis eigentlich? In Bundesbehörden und anderen großen Einrichtungen gibt es spezielle „Geheimschutzbeauftragte“. Zu deren vielfältigem Aufgabengebiet gehört auch, in ihrer eigenen Dienststelle in angemessenen Zeitabständen zu kontrollieren, ob Kolleg*innen die Einstufung, die Befristung und die Handhabung der Verschlusssachen den Vorschriften der Verschlusssachenanweisung entsprechend vorgenommen haben. Transparenz hinsichtlich dieser Vorgänge existiert jedoch nicht. Die internen Kontrolleur*innen selbst entziehen sich jeglicher öffentlichen Kontrolle. Für die Öffentlichkeit ist weder prüfbar, in welchem Ausmaß solche Kontrollen durchgeführt werden, noch wie gründlich.
Der Geheimschutz ist daher nicht nur ein Mittel, Informationen gegen den Zugriff durch andere Staaten zu schützen, sondern auch ein Abwehrschild gegen die eigenen Bürger*innen. Angesichts einer kaum existenten Kontrolle der Nutzung des Geheimschutzes besteht ein Anreiz, insbesondere illegale, illegitime oder strittige Dinge durch die Einstufung als Verschlusssache zu verstecken.
Der rechtliche Rahmen für den Umgang mit Verschlusssachen legt eine sehr begrenzte Nutzung von Geheimhaltungsstufen nahe. Laut Anlage III zur Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen Geheimschutz (Verschlusssachenanweisung – VSA) kommt die Einstufung als Verschlusssache des Geheimhaltungsgrades VS-VERTRAULICH zum Beispiel in Betracht für:
- Ermittlungsberichte in Spionageverdachtsfällen,
- Erkenntnisse über die Arbeitsweise extremistischer/terroristischer Organisationen, deren Preisgabe die weitere Beobachtung/Aufklärung gefährden würde,
- außenpolitische Verhandlungspositionen, deren frühzeitige Bekanntgabe deutschen Interessen schaden würde
Worunter jetzt der rollende Verkauf von Currywürsten mit Tortilla-Crunch fällt, ist unklar. Im eigentlichen Sicherheitsüberprüfungsgesetz fehlen allerdings die beispielhaften Konkretisierungen der Geheimhaltungsstufen, sodass de facto ein riesiger Spielraum existiert. Der wird auch genutzt – siehe oben…
„[…] weil das wichtigste Machtmittel des Beamtentums die Verwandlung des Dienstwissens in ein Geheimwissen durch den berüchtigten Begriff des »Dienstgeheimnisses« bildet: letztlich lediglich ein Mittel, die Verwaltung gegen Kontrolle zu sichern.“
Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918)