Im äußersten Nordwesten der Volksrepublik China, in der Region Xinjiang, werden 20 % der weltweiten Baumwolle produziert und unzählige Textilfirmen fertigen vor Ort und beliefern den Globus mit ihren Produkten. Auch für andere Branchen ist die Region ein zunehmend beliebter Industriestandort – Volkswagen beispielsweise eröffnete vor einigen Jahren hier als erster Autohersteller ein Werk und lässt gemeinsam mit seinem chinesischem Joint-Venture-Partner Fahrzeuge produzieren.
Eins von weltweit unzähligen Beispielen für schwere Menschenrechtsverletzungen
Die Region heißt eigentlich „Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang“ und ist in den letzten Monaten zunehmend in den Fokus der weltweiten Öffentlichkeit geraten. Lange Zeit war wenig bekannt über den Umgang der chinesischen Regierung mit der muslimischen Minderheit der Uiguren, aber langsam kristallisiert sich ein Bild, das US-amerikanische Kongressabgeordnete als die „größte Masseninternierung seit dem Holocaust“ beschrieben haben. NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung haben Ende 2019 (unter anderem durch mutige Whistleblower) mit den „China Cables“ nachgewiesen, wie Chinas Führung hunderttausende Menschen in brutalen Lagersystemen interniert und der Industrie einen Teil als Arbeiter*innen zur Verfügung stellt. Mitte Juli 2020 hat eine breite Koalition internationaler Organisationen mit Blick auf die Textilindustrie dazu aufgefordert, Lieferketten auf uigurische Zwangsarbeit zu überprüfen. Damit ist das Geschehen in Xinjiang eins von weltweit unzähligen Beispielen für schwere Menschenrechtsverletzungen innerhalb der globalen Wertschöpfungsketten.
Freiwillige Standards gescheitert
Volkswagen will an seinem Standort in Xinjiang festhalten. Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in ihrem Werk lägen dem Konzern nicht vor. Nun sollte Zwangsarbeit im eigenen Werk einigermaßen leicht überprüfbar sein, aber bereits bei den regionalen Zulieferern und Dienstleistern dürfte sich die Kontrolle als schwieriger erweisen. Wer redet schon offen, wenn sich der Rest der Familie in einem Internierungslager befindet? Oder noch schlimmer: Der Rest der Familie befindet sich noch nicht in einem solchen Lager, aber das Damoklesschwert schwebt in der Luft.
Der deutsche Autobauer würde dann in der juristischen Verantwortung stehen, wenn das Unternehmen mangelnde Sorgfalt bei der Auswahl und Überprüfung ihrer Zulieferer hat walten lassen. So sieht es jedenfalls der deutsche Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) vor, der in den Jahren 2016 bis 2020 deutschen Großunternehmen (ab 500 Mitarbeitenden) beibringen wollte, potenziell nachteilige Auswirkungen auf Menschenrechte fest- und abzustellen. Dabei hatte man zunächst auf freiwilliges Engagement gesetzt – das hat sich allerdings als nicht ausreichend erwiesen. Von 3000 angeschriebenen Unternehmen erfüllten nur 18 Prozent die Standards, eine zweite vor kurzem durchgeführte Befragungsrunde bestätigte die Ergebnisse, weshalb nun der Koalitionsvertrag greift und eine nationale gesetzliche Regelung ausgearbeitet wird. Teil dieser Regelung wird gemäß deutschem Aktionsplan ein Beschwerdeverfahren zur frühzeitigen Identifizierung von Menschenrechtsverletzungen sein, allerdings kann damit auch ein schwerfälliges, externes Verfahren gemeint sein, das bereits komplizierte Schlichtungsmechanismen enthält und für einen uigurischen Zwangsarbeiter schwierig zu bedienen ist.
Anonyme Hinweise sind Teil des Risikomanagement-Systems
Soweit man sich in einen Menschen in einer solchen Situation hineinversetzen kann, hätte der sich eventuell an Volkswagen gewandt, so er denn nach Abwägung der möglichen negativen und positiven Konsequenzen den Schluss gezogen hätte, dass das Risiko sich lohnt. Auf der einen Seite des Abwägungsprozesses steht der potenziell positive Einfluss auf Chinas Führung des immerhin größten Automobilherstellers der Welt, aber auf der anderen die Bedrohung des eigenen Lebens oder das der Familie. Nur mit einem niedrigschwelligen einfachen System, über das Arbeiter*innen umfassend informiert sind und dem sie vertrauen, dass es absolute Anonymität zulässt, hätte Volkswagen die Chance, in einem solchen Fall Auskünfte zu erhalten.
Eine sorgfältige fortwährende Überprüfung der wichtigsten Zulieferer muss Kanäle beinhalten, durch die Unternehmen Informationen direkt von Arbeiter*innen entlang der Lieferkette erhalten können. Diese müssen über solche Whistleblowing-Systeme umfassend informiert sein, der Zugang muss einfach und verständlich sein, ihnen sollte ein Schutz vor Benachteiligung zugesichert werden und er muss ihnen die Möglichkeit der Anonymität bieten. Funktionierende Hinweisgebersysteme müssen Teil eines jeden Risikomanagement-Systems werden.
Aufwand ist angemessen
Eine gesetzliche Regelung wird nur Großunternehmen betreffen, von denen die meisten bereits entsprechend aufgestellt sind (79 % gaben beim Monitoring des NAP an, bereits über ein eigenes Beschwerdeverfahren zu verfügen), und die auf Grund der EU-Whistleblowing-Richtlinie ohnehin in den kommenden Jahren ein Hinweisgebersystem werden einführen müssen. Daher beschränkt sich der Aufwand darauf, in diesen Systemen sprachliche, kulturelle und technische Barrieren zu reduzieren und entlang der Lieferkette über den Zugang zu informieren. Da in den vergangenen Jahren Hinweisgeber*innen mehr als ausreichend bewiesen haben, wie wichtig sie für die Aufdeckung von Missständen sind und zudem oft keine anderen Wege existieren, direkt aus Zuliefererunternehmen relevante Informationen zu erhalten, erscheint dies mehr als verhältnismäßig und zumutbar. Aufgabe des Gesetzgebers wird sein, den Rahmen entsprechend klar zu setzen, um Standards zu schaffen und Unternehmen die Sicherheit zu geben, Vorgaben ausreichend erfüllt zu haben.
Interne Meldungen sind nicht dasselbe wie öffentliches Whistleblowing
Was wohl passiert wäre, wenn VW Meldungen über Zwangsarbeit bei seinen Zulieferern erreicht hätte? Wenn es gut gelaufen und ähnliche interne Meldungen bei anderen in der Region tätigen Großkonzernen eingetroffen wären, dann sähe die Situation in Xinjiang vielleicht heute anders aus. Aber wie die Dinge liegen, scheint öffentliches Whistleblowing nötig gewesen zu sein, um Bewegung in die Sache zu bringen. Whistleblowing im Kontext von Wirtschaft und Menschenrechten besitzt zwei Aspekte: Es ist ein Werkzeug, um über Missstände informiert zu werden, und es ist ein Schutzgut, das als Teil der Meinungsfreiheit vor Schaden bewahrt werden muss. Erst engagierte Journalist*innen und öffentliche Whistleblower haben so viel Licht nach Xinjiang gebracht, dass Leitmedien rund um den Globus berichten (hier der großartige John Oliver) und der Druck auf Unternehmen steigt, ihre Aktivitäten zu überprüfen und auch der Druck auf Regierungen steigt, Unternehmen zu ihrer menschenrechtlichen Sorgfalt zu verpflichten. Die Lieferketten dieser Welt sind schon lange zusammengewachsen, es ist Zeit, dass die Verantwortung es auch tut.