Zwei jeweils im Dezember 2009 abgeschlossene juristische Promotionen widmen sich dieser Thematik und werden daher hier gleichzeitig vorgestellt und besprochen: „Die Einführung eines Verhaltenskodexes und das Whistleblowing“ von Stephan Fahrig und „Ehtikrichtlinien und Whistleblowing – Arbeitsrechtliche Aspekte der Einführung eines Compliance Systems“ von Mike Schulz.
Im Mittelpunkt beider Arbeiten stehen die arbeitsrechtlichen Fragen: Wie können Unternehmen verbindliche Ethikrichtlinien für Ihre Mitarbeiter einführen? Welche Regelungen zu Whistleblowing sind zulässig? Was ist bzgl. der Beteiligung des Betriebsrates zu beachten?
Die erste und die dritte Frage werden dabei von beiden Autoren weitgehend einheitlich beantwortet. Die Einführung von Ethikrichtlinien durch Unternehmen ist demnach grundsätzlich schon aufgrund ihres Direktionsrechts möglich. Dies leiten beide Autoren zunächst schon aus vertragsimmanenten Pflichten und dem sich auch auf gesetzliche Nebenpflichten erstreckenden Konkretisierungsrecht des Arbeitgebers ab. Ergänzend aber auch aus § 106 GewO und – im vorliegenden Zusammenhang – vor allem auf dessen Satz 2. Entsprechende Regelungen sind außerdem auch gemeinsam mit dem Betriebsrat in Form einer Betriebsvereinbarung möglich. Dabei betonen beide Autoren jedoch, dass der Betriebsrat keine Verfügungsgewalt über individuelle Rechte der Arbeitnehmer hat, weshalb weitergehende Regelungen als sie über das Direktionsrecht möglich wären, auch durch eine Betriebsvereinbarung nicht getroffen werden könnten. Dies sei letztlich nur über vertragliche Regelungen mit den Arbeitnehmer selbst möglich. Letzteres stößt aber auf praktische Grenzen. Einerseits hinsichtlich der Einbeziehung von Altverträgen und hinsichtlich der notwendigen Beachtung des AGB-Rechts, sobald der Arbeitgeber – was ja der Sinn von Ehtikrichtlinien ist – einheitliche vorformulierte Texte verwendet.
Weitgehende Einigkeit zwischen Fahrig und Schulz besteht auch bei der Beantwortung der dritten Frage. Hier schließen sich beide Autoren letztlich der Honeywell-Entscheidung des BAG an. Demnach ist der Betriebsrat unabhängig von dem formalen Regelungsweg – also gleichgültig, ob die Regelung z.B. durch Direktionsrecht oder Betriebsvereinbarung erfolgt – gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG immer dann zu beteiligen, wenn eine Einzelregelung einer Ethikrichtlinie das Ordnungsverhalten des Arbeitnehmers im Betrieb in einer Weise regelt, die nicht bereit vollständig durch eine im Inland verbindliche gesetzliche Regelung vorgegeben ist.
Eine Whistleblowing-Klausel stellt nach zutreffender Einschätzung beider Autoren eine solche Regelung dar und unterliegt somit immer der Mitbestimmung. Selbst wenn sie sich explizit auf andere Regelungen der Ethikrichtlinie bezieht, macht sie jene jedoch nicht automatisch ebenfalls mitbestimmungpflichtig, dies ist vielmehr für jede derart in Bezug genommene Regelung eigenständig und unabhängig von ihrer Whistleblowingumfasstheit zu prüfen.
Hinsichtlich der Beantwortung der zweiten – und aus der Sicht dieses Blogs spannensten Frage – sind sich Fahrig und Schulz in ihrem Ausgangspunkt einig. Beide betrachten die Zulässigkeit einer Whistleblowing-Klausel ausgehend davon, dass diese: erstens Arbeitnehmern nicht nur ein Recht zu einer Meldung einräumt sondern ihnen die Pflicht auferlegt immer Meldungen zu machen und zweitens, dass diese Meldepflicht sich auf alle sonstigen Regelungsgegenstände und mögliche Verstöße anderer Arbeitnehmer gegen die Ethikrichtlinie des jeweiligen Unternehmens bezieht.
Nach Fahrig sind derartige Klauseln grundsätzlich rechtlich zulässig und vom Direktionsrecht des Arbeitgebers umfasst. Etwas anderes gelte erst dann, wenn „die Anzeige dem Arbeitnehmer nicht mehr zumutbar ist. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn das Unternehmen kein berechtigtes Interesse an der Aufdeckung eines bestimmten Sachverhalts und der Übermittlung der Informationen hat. Bei Verstößen anderer Arbeitnehmer gegen den Verhaltenskodex oder arbeitsvertraglich relevantem – abmahnungsfähigen – Fehlverhalten der anderen Arbeitnehmer liegt jedoch ein überwiegendes Interesse des Unternehmens vor.“ Folgt man Fahrig hat der Unternehmer also einen sehr weiten Spielraum alle Arbeitnehmer zu Kontrolleuren ihrer Kollegen zu machen und wird letztlich nur durch entgegenstehendes Recht und die Privatsphäre der Arbeitnehmer (z.B. bei Liebesverboten wie im Fall Wal-Mart) begrenzt.
Schulz zieht die Grenzen enger. Er hält verbindliche Whistleblowing-Klauseln nur für zumutbar und zulässig soweit „ein konkreter Verdacht besteht, das Fehlverhalten in sachlichen, räumlichen und personalbezogenen Zurechnungszusammenhang zum Betrieb/Unternehmen steht, das Fehlverhalten dazu geeignet ist, das Unternehmen zu schädigen und das Fehlverhalten mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist.“
Methodisch kommen beide Autoren auf gleichem Wege zu ihren unterschiedlichen Ergebnissen. Beide vollziehen letztlich eine Grundrechtsabwägung zwischen dem Grundrecht des Arbeitgebers auf Betätigungsfreiheit aus Artikel 12 Abs. 1 GG einerseits und den Grundrechten des Arbeitnehmers aus Artikel 12 (Berufsausübungsfreiheit), 5 Abs. 1 (negative Meinungsäußerungsfreiheit) und Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 GG (negative Handlungsfreiheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht und informationelle Selbstbestimmung), setzten dabei aber unterschiedliche Schwerpunkte.
Für den Verfasser dieser Zeilen ist jedoch weder die Argumentation von Fahrig noch jene von Schulz letztlich überzeugend. Beide verkennen, dass es sich vorliegend um einen Grundrechtskonflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten handelt und dass das Grundgesetz zur Regelung derartiger Konflikte vom Konzept der beiderseitigen Handlungsfreiheit ausgeht, welches sich in Artikel 2 Abs. 1 GG ausdrückt. Demnach kann zunächst einmal jeder, also der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer machen was er will. Ein Handeln oder Nichthandeln des Arbeitnehmers kann demnach die Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers, und zwar auch jene aus Artikel 12 GG, nur dann einschränken wenn und soweit es die Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers beschränkt. Dies ist aus Sicht des Verfassers beim Unterlassen einer Whistleblowing-Meldung nicht gegeben. Der Arbeitgeber kann ja immer noch tun was er will, auch wenn der Arbeitnehmer untätig bleibt. Ihm entgeht lediglich ein Zuwachs an Wissen/Information, der aber für die Führung eines Unternehmens keineswegs unabdingbar ist und den der Unternehmer sich – und dies ist der grundrechtlich gebotene Weg – anders, nämlich durch Freiwilligkeit – die Vertragsfreiheit der Grundrechtssubjekte – beschaffen kann. Für eine Abwägung, die wie die Autoren zeigen, praktisch jedes unterschiedliche Ergebnisse rechtfertigen könnte, bleibt also mangels Grundrechtsrelevanz auf Seiten des Arbeitgebers gar kein Raum.
Ausgehend von diesem Grundansatz wird schnell deutlich, wie die Frage der Zulässigkeit von verpflichtenden Whistleblower-Klauseln nach Meinung des Verfassers dieser Buchbesprechung zu beantworten ist: Eine Verpflichtung des Arbeitnehmers zum Whistleblowing ist nur zulässig, soweit sich diese aus gesetzlichen Regelungen oder aus vom Arbeitnehmer zuvor freiwillig eingegangenen vertraglichen Vereinbarungen ergibt. Gesetzliche Regelungen umfassender Art gibt es bisher nicht. Aus Vertrag kann eine Whistleblowingpflicht nur dort und insoweit abgeleitet werden, wo ein Arbeitnehmer spezifische Kontrollaufgaben über einen Sach-/Fachbereich und/oder Kollegen übernommen hat. Am umfassendsten dürfte dies für einen Compliance-Officer gelten, dem je nach Ausgestaltung seines Vertrages typischer Weise die Pflicht zur Meldung jedes Verstoßes an die Geschäftsleitung obliegen dürfte. Auch bei Vorgesetzten oder Mitarbeitern spezieller Kontrollabteilungen wird im Rahmen ihres Aufgabenbereiches zumindest eine entsprechend direktionsrechtliche Konkretisierung möglich sein. Bei anderen Mitarbeitern ohne Kontroll- oder spezielle Beschützungsaufgaben hinsichtlich der Rechtsgüter des Arbeitgebers dürfte jedoch im Regelfall keine entsprechende Pflicht anzunehmen sein, folglich also ihre Konkretisierung durch Direktionsrecht auch ausgeschlossen oder zumindest auf absolut krasse Ausnahmefälle in denen eine Täterschaft eindeutig ist und dem Unternehmen ein immenser Schaden droht, beschränkt sein.
Letztlich besteht somit weder aufgrund der Compliance-Debatte noch aufgrund des Phänomens des Whistleblowings ein Grund von den bisher für die Entwicklung von Anzeigepflichten entwickelten, soeben erneut dargestellten Grundsätzen abzuweichen. Dieser ergibt sich, anders als vor allem Fahrig dies andeutet, auch nicht aus § 106 Satz 2 GewO. Die danach zulässige Regelung des „Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer“ im Betrieb muss trotz der Verwendung des Plurals immer auf die Vertragsbeziehung zum einzelnen Arbeitnehmer heruntergebrochen werden. Der Arbeitgeber darf also dem einzelnen Arbeitnehmer vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat, um die Ordnung im Betrieb nicht zu gefährden. Demgegenüber bezieht sich eine Whistleblowing-Pflicht aber gerade nicht auf das Verhalten des Arbeitnehmers selbst und eine von ihm ausgehende Ordnungsgefährdung sondern auf eine Ordnungsgefährdung durch Dritte, die demnach außerhalb des Regelungsbereiches von § 106 Satz 2 GewO liegt.
Bestätigt wird dieses Ergebnis auch durch den Gedanken der Einheitlichkeit der Rechtsordnung. Der Bundesgesetzgeber hat sich nämlich z.B. im Strafrecht (§ 13 StGB) dafür entschieden, ein Unterlassen (anlog zum Nicht-Whistleblowing als Ordnungsverhalten) nur dann einem positiven Tun (eigenem fehlerhaften Ordnungsverhalten) nur dann und und insoweit gleichzustellen wie „er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt“. Es muss also eine Garantenstellung bestehen, die ihrerseits aus Gesetz, Vertrag aus vorangegangenen Tun und aus enger Lebensgemeinschaft herrühren kann. Ein bloßes Arbeitsverhältnis als solches reicht hierfür nicht. Und auch bei der Wertung des Bundesgesetzgebers hinsichtlich der Anzeigepflicht hilft ein Blick in das Strafgesetzbuch, dessen § 139 diese nur in sehr eng begrenzten Ausnahmefällen begründet. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die es rechtfertigen würden § 106 Satz 2 GewO in einer Weise auszulegen die diesen grundsätzlichen Wertentscheidungen des Gesetzgebers zuwider liefe. Eine allgemeine, nicht auf die spezifische Stellung des Arbeitnehmers abstellende Whistleblowingverpflichtung durch Ethikrichtlinien ist daher unzulässig. Bedauerlich ist dabei, dass beide juristischen Promotionen die vorliegende Argumentation nicht einmal in Betracht gezogen haben.
Dieses Ergebnis bedeutet jedoch keineswegs eine generelle Absage an Whistleblowingregelungen in Ethikrichtlinien. Solange diese gegenüber den Arbeitnehmern nur deren – aufgrund der obigen Rechtsprechung in engen Grenzen und in besonderen Fällen ohnehin – bestehende Anzeigepflichten wiedergeben und ihnen darüber hinaus lediglich die Möglichkeiten und Wege eines freiwilligen Whistleblowings aufzeigen und eröffnen, bestehen keinerlei Bedenken gegen derartige Regelungen. Im Gegenteil dürfte eine solcher Ansatz praktisch auch wesentlich vielversprechender sein, da einerseits mangels Zwangscharakter die Akzeptanz bei den Arbeitnehmern und ihren Vertretern regelmäßig stärker sein dürfte und andererseits der Nachweis der bewussten Verletzung auch bei einer Nichtanzeige bei verpflichtender Whistleblowingklausel praktisch kaum gelingen dürfte. Mit mehr Spielraum und einem dialogisch-kooperativen Vorgehen sollte also auch den Arbeitgeberinteressen regelmäßig besser gedient sein.
Fahrig, Thomas: Die Einführung eines Verhaltenskodexes und das Whistleblowing; ISBN: 978-3-8329-5443-7; 2010
Schulz, Mike: Ethikrichtlinien und Whistleblowing — Arbeitsrechtliche Aspekte der Einführung eines Compliance-Systems ; ISBN: 978-3631599044; 2010