Erwin Bixler stellt als Revisor beim Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland 1998 manipulierte Vermittlungszahlen von Arbeitslosen fest. Seine internen Hinweise werden nicht aufgegriffen, bis er sich direkt an den damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester wendet. In der Folge wird die Behördenstruktur der Arbeitsmarktförderung umgebaut. Erwin Bixler wird gemobbt, krank und schließlich frühpensioniert.
Was wurde aufgedeckt und worin bestand das öffentliche Interesse?
Seit den 90er Jahren bezweifelt Erwin Bixler die Effizienz des Systems der Arbeitsmarktförderung und die Effektivität der bundesdeutschen Arbeitsamtsstrukturen mit ihren rund 90.000 Angestellten, denn nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter*innen ist für die tatsächliche Vermittlung von Arbeitslosen zuständig. Besonderes Kopfzerbrechen bereitetet ihm als Revisor der Umstand, dass die offizielle Statistik der Arbeitsämter seit Jahren in erheblichem Maße falsch zu sein scheint. 3,7 Millionen registrierten Erwerbslosen im Jahr 1998 steht die Zahl von 3,4 Millionen aktiv vermittelter Stellen durch die Arbeitsämter gegenüber. Doch eine Vielzahl der Vermittlungen ist bei genauerer Betrachtung nicht nachvollziehbar. Teilweise werden fiktive Stellenangebote für die Verbesserung der Statistik verwendet, wie 2002 ein Bericht des Bundesrechnungshofs bestätigt.
Was hat der Whistleblower unternommen?
Erwin Bixler thematisiert das Problem in einer Fachzeitschrift, veröffentlicht Leserbriefe in der Mitarbeiterzeitung, schreibt Revisionsberichte, erstellt Vermerke und leitet sie weiter. Das Thema ist jedoch innerhalb der Arbeitsamtsbürokratie tabu.
Als Erwin Bixler Ende 2001 erfährt, dass sich der Bundesrechnungshof mit dem Thema beschäftigt, fasst er neuen Mut und schreibt erst an das Bundeskanzleramt, dann an den damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester. Dieser hat zu dem Zeitpunkt einen Entwurf des Berichts des Bundesrechnungshofs auf seinem Schreibtisch: 71% der amtlichen Vermittlungszahlen seien manipuliert. Er bestellt daher den Revisor Erwin Bixler nach Berlin und lässt sich erklären, wie diese Zahlen zustande kommen.
Anfang 2002 geht dann alles ganz schnell. Die Medien enttarnen Erwin Bixler als Informanten und zitieren aus seinem Brief an Walter Riester. Journalist*innen und Fernsehteams drängen auf Interviews. Nach langem Zögern steht er Rede und Antwort.
Was waren die Folgen für den Whistleblower?
Erwin Bixler wird auf seiner Dienstelle drangsaliert. Er soll sich auf Stellen bewerben, die kurz danach gestrichen werden. Seine bis dahin überdurchschnittliche dienstliche Beurteilung wird herabgestuft. Die Ankündigung des damaligen Arbeitsministers Walter Riester, Erwin Bixler stünde unter seinem „persönlichen Schutz“, nützt ihm nichts.
Erwin Bixler wird unter dem Druck krank. Es folgt eine amtsärztliche Untersuchung mit dem Ergebnis, dass er auf Dauer dienstunfähig sei. 2004 wird der engagierte Revisor mit 50 Jahren frühpensioniert.
Was waren die gesellschaftlichen Folgen?
In Folge des medialen Skandals und des politischen Drucks tritt der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit zurück. Die Behördenstruktur der Arbeitsmarktförderung wird grundlegend umgebaut. Durch die erhebliche Effizienzsteigerung kann der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung deutlich gesenkt werden. Mit seinem Handeln hat Erwin Bixler an den Senkungen der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mitgewirkt und so geholfen, Milliardenbeträge einzusparen.
Erwin Bixlers Erfahrungsbericht – 15 Jahre danach
Du lebst nur einmal, und das Leben ist kurz. Im Grunde war es dieser schlichten Weisheit geschuldet, dass ich einst beschloss, nicht mehr jeden, summa summarum zig Milliarden kostenden Unsinn, der in der einstigen Bundesanstalt für Arbeit zum täglichen Geschäft gehörte, mitzumachen. Meine Eingabe an ein Mitglied der damaligen Bundesregierung wurde der Presse zugespielt. Es folgte ein wochenlanges Bohei, das mich viel Energie und reichlich Körpermasse kostete. Aber meine Eingabe hatte im Verbund mit einer viel weniger weitreichenden Beanstandung des Bundesrechnungshofes auch noch andere Folgen: Der damalige Anstaltspräsident und ein Staatssekretär mussten ihren Hut nehmen, der Bundeskanzler kündigte eine groß angelegte Reform der Bundesanstalt für Arbeit an.
Als ich wieder in meine Dienststelle zurückkehrte, fand ich mich in einer Art „Back-Office“ wieder, in dem ich keinen weiteren Schaden anrichten konnte. Daneben gab es den einen und anderen Versuch, mich auf bürokratische Art und Weise zu ärgern. In dieser Zeit gehörten Psychopharmaka zu meinem täglichen Brot.
Schließlich wurde mir eröffnet, dass meine dienstlichen Leistungen, die bis dahin regelmäßig von verschiedenen Vorgesetzten als weit überdurchschnittlich bewertet worden waren, nur noch dem Durchschnitt entsprächen. Ich klagte gegen die neue dienstliche Beurteilung. Erfolglos. Du lebst nur einmal, und das Leben ist kurz.
Und wenn ich nichts unternommen hätte, noch kürzer. Einige Monate später folgte eine amtsärztliche Untersuchung mit dem Ergebnis, dass ich auf Dauer dienstunfähig sei.
Im Ruhestand hatte ich noch eine ziemliche Weile am Nachhall des Erlebten zu knabbern.
Gewissensbisse bereitete mir zunächst der Umstand, dass ich jetzt ausgerechnet auf Kosten jener Beitragszahler lebte, in deren Auftrag ich mich wähnte, als ich bestimmte Missstände benannte. Dann stellte ich jedoch fest, dass ich die Gegenleistung für die Kosten meiner Frühpensionierung längst erbracht hatte: So ist beispielsweise der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von einstmals 6,5 Prozent schon bald auf 3 Prozent gesunken. Hinter diesen unscheinbaren Zahlen verbergen sich zweistellige Milliardenbeträge, die eingespart wurden. Und ich konnte mir mit Fug und Recht zugestehen, dass ich wenigstens einen kleinen Beitrag zu dieser enormen Beitragssenkung geleistet hatte.
Du lebst nur einmal, und das Leben ist kurz.
Inzwischen bin ich sogar geneigt, mich für privilegiert zu halten. Ich denke, dass ich im Vergleich zu vielen anderen Whistleblowern ziemlich gut weggekommen bin. Immerhin konnte ich mit meinem unkonventionellen Handeln etwas bewirken.
Dass unsere Gesellschaft Whistleblowing nicht oder nicht genügend zu schätzen weiß, erkläre ich mir übrigens damit, dass in den meisten (öffentlichen oder nichtöffentlichen) Einrichtungen die sprichwörtlichen Leichen im Keller liegen, von denen keiner erfahren soll. Deshalb erntet ein Hinweisgeber zwar manchmal öffentliche Anerkennung. Aber im eigenen Haus will man so jemanden selbstverständlich nicht haben.