Mit dem gestrigen Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Deutschland in Sachen Rechtsstaatlichkeit mal wieder die Leviten gelesen – und dass ist auch gut so! Nun ist die Bundesregierung gefordert, entweder noch den weiteren Rechtsweg zu beschreiten oder das Urteil umzusetzen. Da es hier um Strafrecht bzw. Öffentliches Recht geht, dürfte es dabei auch keinerlei grundsätzliche rechtliche Probleme geben. Anders sieht es aber dort aus, wo es um zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privaten geht, die vor nationalen Gerichten durch rechtskräftige Urteile abgeschlossen sind. Wenn diese in Straßburg überprüft und für menschenrechtswidrig erkannt werden, bedarf es danach auf nationaler Ebene eines formellen Wiederaufnahmeverfahrens.
Dies würde z.B. auch im Falle von Brigitte Heinisch (Whistleblowerpreisträgerin 2007) gelten. Nach der Kündigung durch Vivantes liegt Ihre Beschwerde gegen das rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin nun auf dem Tisch des EGMR. Wenn Frau Heinisch dort gewinnt, kann sie danach in Deutschland im Wiederaufnahmeverfahren letztlich doch noch die Aufhebung ihrer Kündigung erreichen. Dies besagt § 580 Nr.8 ZPO (der wegen § 79 ArbGG auch im Arbeitsrechtsprozess gilt) :
Die Restitutionsklage findet statt:
8. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.
Aber da gibt es noch einen Haken. Denn es gibt auch noch § 586 ZPO und insbesondere die fünfjährige Ausschlußfrist nach Absatz 2 ZPO:
§ 586 Klagefrist
(1) Die Klagen sind vor Ablauf der Notfrist eines Monats zu erheben.
(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat, jedoch nicht vor eingetretener Rechtskraft des Urteils. Nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tag der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, sind die Klagen unstatthaft.
(3) Die Vorschriften des vorstehenden Absatzes sind auf die Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Vertretung nicht anzuwenden; die Frist für die Erhebung der Klage läuft von dem Tag, an dem der Partei und bei mangelnder Prozessfähigkeit ihrem gesetzlichen Vertreter das Urteil zugestellt ist.
Nun, fünf Jahre sind eine lange Zeit. Leider beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer beim EGMR aktuell aber schon vier Jahre, Tendenz steigend. Hinzu kommt, wie auch im Falle Heinisch noch jene Zeitspanne die seit dem letztinstanzlichen arbeitsgerichtlichen Urteil noch für eine erfolglose Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe aufgewandt werden muss (die Rechtswegerschöpfung ist Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Beschwerde beim EGMR). Da sind fünf Jahre schnell um (im gestern entschiedenen Fall erfolgte die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde im Februar 2004 die EGMR-Beschwerde im Mai 2004) und die vor dem EGMR erfolgreiche Beschwerdeführin steht am Ende doch mit leeren Händen dar. Im Falle von Frau Heinisch würde, die als menschenrechtswidrig festgestellte, Kündigung in jenem Falle dann trotzdem fortbestehen, ohne dass sie noch etwas dagegen machen könnte.
Dies darf nicht sein – und verstößt im übrigen gegen Völkerrecht, da Deutschland verpflichtet ist den Urteilen des EGMR auch national volle Wirksamkeit zu verschaffen. Nötig ist demnach eine Ergänzung von § 586 ZPO wie sie in einer aktuellen E-Petition vorgeschlagen wird:
Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass § 586 Zivilprozeßordnung (ZPO) durch einen Absatz 4 ergänzt wird mit dem möglichen Wortlaut: „Die Vorschriften des Absatzes 2 gelten ferner nicht, sofern die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gemäss § 580 Nr. 8 ZPO nach Ablauf der Fünfjahresfrist ergeht. In diesem Falle läuft die Monatsfrist zur Erhebung der Klage ab Bekanntgabe der unanfechtbaren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
Wer daran interessiert ist, dass Europäischen Menschenrechtsstandards in Deutschland Geltung verschafft werden kann, sollte diese E-Petition mitzeichnen.