Die Verantwortung
9.4.24. In der Kommission gibt es kein einfaches, schnelles und praktisches internes Verfahren zur Feststellung der individuellen Verantwortlichkeiten im Falle von Unregelmäßigkeiten und möglichen wiederholten Betrügereien durch ihre eigenen Beamten. Der Ausschuß hat diese Unzulänglichkeit in den meisten von ihm geprüften Dossiers festgestellt. …
9.4.25. Die Verantwortung der Kommissionsmitglieder oder der Kommission insgesamt darf in der Praxis nicht nur eine vage Idee, ein unrealistischer Begriff sein. Man muß sich ständig der Verantwortung bewußt werden. Jeder muß sich für den Bereich, für den er zuständig ist, verantwortlich fühlen. Im Verlauf der vom Ausschuß durchgeführten Untersuchungen wurde allzu oft festgestellt, daß das Verantwortungsbewußtsein in der hierarchischen Kette versickert. Es wird schwierig, irgendeine Person zu finden, die sich auch nur im geringsten verantwortlich fühlt. Dieses Verantwortungsbewußtsein ist jedoch von wesentlicher Bedeutung. Man muß es in erster Linie von den Kommissionsmitgliedern und ihrem Kollegium erwarten. Der Versuch, den Begriff der Verantwortung seines wirklichen Inhalts zu berauben, ist gefährlich. Dieser Begriff ist eigentlicher Ausdruck der Demokratie.
So lauteten die letzten Worte des Berichts der unabhängigen Sachverständigen vom 15.03.1999 der am Tage darauf, also heute vor 10 Jahren, zum Rücktritt der Europäischen Kommission unter Jacques Santer führte. Auslöser war Whistleblower und EU-Beamter Paul v. Buitenen der sich bereits im Dezember 1998 an das EU-Parlament gewandt und dieses über Missstände innerhalb der Kommission informiert hatte.
Was die Bilanz seither angeht, so scheint bezeichnend, dass die Luxemburger Monatszeitschrift Forum die sich als eines von ganz wenigen Medien noch mit diesen Fragen beschäftigt, ihrem Heft den Titel „Die Kultur der Verantwortungslosigkeit“ gibt. Die Beiträge darin, die leider nur teilweise im Internet verfügbar sind, sind wirklich lesenswert.
Bei der Beantwortung der Frage was seither geschah, fällt auf, dass zwischenzeitlich der Europäische Gerichtshof, obwohl er Fehlverhalten der damaligen Kommissarin Cresson festgestellt hatte, deren Bestrafung durch die Kommission aufhob, während Marta Andreasen, eine andere Whistleblowerin, die auf Missstände in der Kommission aufmerksam machte, von der Kommission entlassen wurde und das EU-Gericht für den öffentlichen Dienst diese Entlassung auch aufrecht erhielt. Paul v. Buitenen selbst wurde zwar 2004 ins Europaparlament gewählt, wird aber zur diesjährigen Wahl erst gar nicht mehr antreten und zieht eine ernüchternde Bilanz seiner Bemühungen um mehr Transparenz und effektivere Korruptionsbekämpfung innerhalb der EU-Institutionen. Vernichtend fällt auch sein Urteil über OLAF, das in der Folge der Ereignisse im Jahre 1999 gegründete Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, aus: „The fight against internal EU fraud by the EU anti-fraud office OLAF fails completely“. Einen Namen gemacht hat sich OLAF hingegen durch sein ungesetzliches Vorgehen gegen den Stern-Journalisten Hans Martin Tillack, dem ohne Anhaltspunkte vorgeworfen wurde EU-Beamte durch Geldzahlungen zur Weitergabe von Informationen bewegt zu haben. Tillack musste nach erfolglosen Verfahren vor belgischen und EU-Gerichten bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen um Recht zu bekommen.
Eine Bilanz besonderer Art stellt schließlich eine in englischer Sprache verfasste Studie dar, die wir unseren Lesern besonders ans Herz legen. Sie beschäftigt sich speziell mit den Schicksalen von Whistleblowern in den EU-Institutionen im letzten Jahrzehnt und stellt neben den genannten auch die von den Medien bisher weitgehend unbeleuchteten Fälle von Bart Nijs, Christine Sauer, Robert McCoy, Dougal Watt, Dorte Schmidt-Brown und Guido Strack dar. Im Ergebnis schließt sich die Studie der Einschätzung des australischen Whistleblower-Forschers Bill de Maria an, der „in a path breaking study, found that whistleblowers reported being helped by formal channels in fewer than one out of ten cases“ und spricht von einer „currently miserably failing EU“.
Wahrscheinlich würde demnach das Eingangs zitierte Urteil der unabhängigen Experten heute kaum anders ausfallen, nur leider werden solche unabhängige Experten heute erst gar nicht mehr gefragt.