Ein Gastbeitrag von Milena Rivera Espejo, Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.
Es war ein Tag Mitte Februar. Ich saß im Zug. Rückblickend denke ich, dass ich der einzige Fahrgast war, aber da trügt mich wohl meine Erinnerung. Auf meinem Schoß lagen sie: Listen, Dokumente – ich hielt sie fest umklammert. Ich fühlte mich wie in einem dieser Filme: Whistleblower, verschlüsselte Absprachen, Unbekannte an irgendwelchen Bahnhöfen treffen, die Übergabe geheimer Dokumente. Aber es war kein Film, sondern mein Job.
Stunden vorher stand ich am Duisburger Bahnhof, wartete auf Herrn B., einen Whistleblower, der früher bei Mannesmann am Standort Düsseldorf-Rath gearbeitet hatte. Er kam, holte mich ab, die Atmosphäre war ungezwungen, freundlich, sehr angenehm. Wir fuhren zu ihm nach Hause, ich setzte mich an diesen großen Holztisch mit Blick auf den Garten. Der Tisch war voller Unterlagen, ich trank einen Schluck Kaffee und Herr B. begann zu erzählen.
Lange schon hatte Herr B. für Mannesmann im Aufgabengebiet „Rentenbezüge“ gearbeitet. Dann fing er an für das Unternehmen unbequem zu werden, weil er Fragen stellte, weil er Ungereimtheiten aufdeckte. Er wurde versetzt. Nun kam er an die Seite von Frau S., deren Aufgabengebiet es unter anderem war – auf Anfrage – im Archiv Nachweise ehemaliger Zwangsarbeiter*innen zu suchen. In den Jahren 1940 bis 1945 hatte das Unternehmen in großem Stil Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangene in seinen Werken eingesetzt.
Die Anfragen wurden jedoch ausnahmslos abschlägig beantwortet. Es gebe keine Unterlagen mehr, die wurden alle während der Bombenangriffe zerstört, so die Aussage.
Eines Tages wurde Frau S. krank und Herr B. übernahm ihr Aufgabengebiet. Das Archiv lag im Keller, ein Ort, an dem sich Frau S. wohl nicht gerne aufhielt. Herr B. aber suchte diesen auf – und wurde fündig. Dort waren sie: Listen mit Namen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen, Unterlagen, die die Zwangsarbeit belegten. Wichtige Nachweise für die Betroffenen, um materielle Entschädigung und höhere Rentenbezüge zu bekommen. Herr B. ging daraufhin zur Personalleitung und setzte diese davon in Kenntnis, dass es sehr wohl Belege gibt und nicht alles in den Bombenangriffen zerstört wurde. Davon wollte die Personalleitung allerdings nichts wissen. Er wolle doch jetzt nicht wieder ein Fass aufmachen. Herrn B. wurde massiv gedroht, er solle bei der alten Geschichte bleiben, oder er werde gefeuert. Die Dokumente sollte er vernichten. Herr Z. wurde ihm als „Aufpasser“ zur Seite gestellt, also nahm Herr B. die Dokumente, die Listen unter Aufsicht von Herrn Z. und brachte sie in den Keller, warf sie in einen Container der Dokumentenvernichtung.
Aus, vorbei, verloren.
Allerdings waren die Container nicht abgeschlossen, das fiel Herrn B. sofort auf. Nach Feierabend schlich er sich wieder in den Keller, öffnete den Container, holte die Unterlagen heraus, verstaute sie in seiner Tasche und ging schnell nach Hause. Um nicht aufzufallen entsorgte Herr B. am nächsten Morgen direkt andere Dokumente, damit sein „Aufpasser“ Herr Z. glaubte, die Belege über die Zwangsarbeit seien nur weiter nach unten gerutscht.
Unglaublich! Was für eine Geschichte! Eines aber irritierte mich: Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. hatte im Rahmen seines Projektes „Nachweisbeschaffung“ bereits mit Mannesmann Kontakt aufgenommen. Das Mannesmann-Archiv war damals sehr kooperativ gewesen, hatte dem Bundesverband Unterlagen zur Verfügung gestellt, sodass die betroffenen Menschen eine materielle Entschädigung erhalten konnten. Als ich dies ansprach, lachte Herr B. kurz laut auf. Nicht alle Dokumente wurden in dem Hauptarchiv gelagert. Die Standorte verfügten über eigene kleinere Archive. Wenn die Mitarbeiter*innen im Hauptarchiv nicht fündig geworden waren, fragten sie die einzelnen Standorte an. Damals fiel wohl schon auf, dass der Standort Düsseldorf-Rath ungewöhnlich viele negative Bescheide erteilte. Es wurde nachgehakt, aber ansonsten passierte nichts.
2011 ging Herr B. in Rente und das Thema „Zwangsarbeit“ verlief im Sand. Die Dokumente allerdings sind noch vorhanden…
Der Zug hielt an: Köln Hauptbahnhof. Ich nahm die Dokumente und stieg aus, verlor mich in der Menge des Getümmels. Im Gepäck: Eine Geschichte, bei der es sich lohnt, genauer nachzuforschen.
Alle Interessierten, die diese Geschichte im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit erforschen möchten, können sich gerne an den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgung e.V. wenden.